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Vertrauen ist ein Wagnis

Predigt zu Jesaja 54, 7-10
26. März 2017
Martin-Luther-Kirche Linz

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

Liebe Gemeinde,
Lisa hat ihren Job verloren. Nach zwölf Jahren hat man ihr gesagt, dass sie gehen muss. Ihre Chefin meint, dass sie nicht mehr aufmerksam genug ist, dass sie zuviel vergisst. Lisa weiß nicht, wovon sie spricht. Ihre Aufgaben hat sie immer erledigt. Lisa hat ihren Job verloren. Auch die Arbeiterkammer, auch die Gewerkschaft kann ihr nicht helfen. In Österreich kann man fast jeden kündigen – ohne Erklärung, ohne Grund. Lisa weiß nicht, wie es weitergeht. Ihr Mann, ihre Kinder – alle sind ratlos, verzweifelt. Die Kollegen sind peinlich berührt, die Freunde sprachlos. Was kann Lisa jetzt tun?

2.
Es gibt auch andere Lebenskrisen. Vielen geht es wie Paul. Eine hartnäckige Verkühlung führt ihn zum Arzt. Der schickt ihn zum Röntgen. Dann der Befund: Lungenkrebs. „Wieso ich?“ denkt sich Paul. „Warum trifft es mich? Ich habe nie geraucht, immer gesund gelebt. Hat Gott mich verlassen?“

3.
Kennen Sie das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, allein dazustehen im Leben? Haben Sie sich schon einmal einsam gefühlt – trotz Familie und Freunden? In dunklen Stunden mischt sich zur Ratlosigkeit der Zorn. In dunklen Stunden hält uns die Wut aufrecht. Zorn und Wut geben uns Energie, wenn wir das Gefühl haben, von Gott und den Menschen verlassen zu sein. Dazu mischt sich der Zweifel: „Habe ich etwas falsch gemacht? Bin ich etwa selber schuld an meinem Elend?“

Sie kennen das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, allein dazustehen im Leben. Sie haben sich schon einmal einsam gefühlt – mitten unter uns. Gottverlassen, fern von aller Sicherheit und Geborgenheit. Menschenverlassen, einsam und verunsichert – mitten unter uns.

Das Gefühl der Gottesferne, das Gefühl, dass uns auch unsere Schwestern und Brüder unendlich fern sind, schnürt uns den Atem ab. Wie kann man so einsam sein, mitten unter Menschen? Warum lässt uns Gott, warum lassen uns unsere Mitmenschen so alleine mit unserem Leid?

4.
„Ich war nur kurz weg, ich habe nur kurz nicht aufgepasst“, sagt die Mutter. Ihre kurze Unachtsamkeit hat das Kind in eine schwere Krise gestürzt. Plötzlich war es allein mitten im Getümmel. Plötzlich war die Mutter weg, rundum nur Unbekannte, nur Fremde. Das Kind ruft „Mama, Mama“. Es beginnt zu weinen, zu rufen, zu schreien. Verzweifelt läuft es herum, um die Mutter zu finden. Dann endlich, nach unendlichen Sekunden und Minuten, die rettende, vertraute Hand.

„Ich war nur kurz weg, ich habe nur kurz nicht aufgepasst. Jetzt bin ich wieder da.“ Darf sie das – kurz nicht aufpassen? Wer wird sie zur Rechenschaft ziehen? Wer wird Gott zur Rechenschaft ziehen, wenn er kurz mal nicht aufpasst?

5.
Natürlich wünschen wir uns das: Einen Gott, der uns behütet. Einen Gott, der auf uns aufpasst, der Krankheit und Leid von uns fernhält. Natürlich wünschen wir uns das. Aber seien wir mal ehrlich: Als Erwachsene haben wir uns längst von diesem kindlichen Bild verabschiedet. Als Erwachsene wissen wir, dass das Leben, dass Gott nicht so funktioniert. Krankheit, Elend, Tod – vieles spricht gegen die Vorstellung, Gott wäre jeden Augenblick mit seiner schützenden Hand an unserer Seite. Oft fühlen wir uns wie das Kind, das die Hand seiner Mutter vermisst.

Doch Gott ist nicht der magische Helfer, der mit seinem Zauber alles wieder gut macht. Gott lässt Leid zu und stürzt uns in Ratlosigkeit, in Verzweiflung. Gott mutet uns Leid zu, stellt uns vor Herausforderungen, gibt uns Nüsse zu knacken. Doch wie können wir Gott dann vertrauen?

6.
Vertrauen ist wohl eines der wichtigsten Lebensthemen von uns Menschen. Durch die Liebe von Mutter und Vater entwickeln wir Menschen ein Urvertrauen, ein Grundvertrauen darauf, dass wir im Leben getragen sind. Wer dieses Urvertrauen in den ersten Lebensmonaten, in den ersten Lebensjahren nicht entwickeln kann, leidet ein Leben lang darunter, hat es schwer, anderen Menschen gegenüber Vertrauen zu fassen.

Dieses Urvertrauen erinnert mich an das Gottvertrauen, das religiöse Menschen aller Traditionen empfinden. Wie das menschliche Urvertrauen trägt uns das Vertrauen auf Gott durch schwere Zeiten, lässt uns das Gottvertrauen Lebenskrisen bewältigen, auch wenn wir immer wieder vom Zweifel über Gottes Treue und Güte geplagt werden. Vertrauen ist ein Wagnis, egal ob es dabei um Vertrauen auf andere Menschen oder um das Vertrauen auf Gott geht.

7.
„Pistis“, das griechische Wort für Vertrauen, übersetzen wir meist mit „Glauben“. In der griechischen Mythologie war Pistis die Personifizierung von Vertrauen und Verlässlichkeit. In der Bibel, im Neuen Testament steht „Pistis“ für Glauben und Gottvertrauen. Auch das deutsche Wort „Glauben“ bedeutet nicht, etwas für wahr halten, sondern bezeichnet eine Grundhaltung des Vertrauens.

Vertrauen steht also im Zentrum alles Religiösen, Vertrauen ist auch die Grundhaltung der Glaubenden, auf jeden Fall von Christinnen und Christen. Christinnen und Christen sind Vertrauensmenschen. Sie vertrauen darauf, von Gott gewollt und bejaht zu sein. Sie vertrauen darauf, von Gott begleitet und getragen zu werden. Christinnen und Christen sind Vertrauens-menschen, denn glauben heißt vertrauen.

8.
Zugegeben, vertrauen ist nicht immer einfach. Zu oft wird unser Vertrauen enttäuscht, zu oft enttäuschen aber wir auch andere. Vertrauen ist nicht einfach, aber was ist die Alternative: Misstrauen? Argwohn? Zweifel? Angst?

Irgendwann wird wohl auch Lisa wieder lernen zu vertrauen. Sie wird ihrer Familie vertrauen und ihren Freunden. Sie wird einen neuen Job finden und lernen, auch ihren Vorgesetzten und Kollegen wieder zu vertrauen. Sie wird sich selbst vertrauen und Zutrauen zu ihren eigenen Fähigkeiten finden.

Und Paul? Wird es ihm gelingen angesichts der lebensbedrohenden Erkrankung Vertrauen in die Ärzte und in die Möglichkeit des Gesundwerdens zu fassen? Wird er sich von Gott getragen und von uns allen wahrgenommen und begleitet fühlen?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Vertrauen ein Wagnis ist, das es wert ist, eingegangen zu werden. Vertrauen – ein Wagnis mit offenem Ausgang, aber unter der Verheißung der Gnade Gottes: „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“

Amen.

Published inPredigten

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