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Orte der Sehnsucht

Predigt zu Markus 4, 26-29
Martin-Luther-Kirche Linz
19. Februar 2017

»Mit dem Reich Gottes«, so erklärte Jesus weiter, »ist es wie mit einem Bauern, der die Saat auf seinem Acker ausgestreut hat. Er legt sich schlafen, er steht wieder auf, ein Tag folgt dem anderen; und die Saat geht auf und wächst – wie, das weiß er selbst nicht. Ganz von selbst bringt die Erde Frucht hervor: zuerst die Halme, dann die Ähren und schließlich das ausgereifte Korn in den Ähren. Sobald die Frucht reif ist, lässt er das Getreide schneiden; die Zeit der Ernte ist da.«

Liebe Gemeinde,
wenn es draußen kalt ist und grau, wenn mich der Trott des Alltags einholt, dann denke ich manchmal an meinen letzten Urlaub zurück. Vor meinem geistigen Auge erscheinen dann grüne Wiesen, schwarz-weiß gefleckte Kühe, gotische Kathedralen, endlos weite Strände und das Meer, dessen blaue Wogen in der Ferne ins Blau des Himmels übergehen. Ich spüre den Sand zwischen den Zehen, Sonne und Wind auf meiner Haut; über mir das Geschrei der Möwen, in der Ferne ein Kitesurfer, der über das Wasser schießt. Dann sehne ich mich nach langen, hellen Tagen im Westen, nach Crêpes und Baguette, Rotwein und Käse.

Wahrscheinlich haben auch Sie solche Sehnsuchtsorte, die Sie nicht loslassen, oder die Sie unbedingt einmal mit eigenen Augen sehen wollen. Vielleicht wollen Sie durch die Straßen Roms schlendern oder eine Expedition durch die russische Tundra machen oder endlich mal die Wolkenkratzer New Yorks besteigen. Jede und jeder von uns hat solche Sehnsuchtsorte, zu denen wir immer wieder zurückkehren, oder die wir endlich einmal besuchen möchten.

Und auch abseits dieser besonderen Träume tragen wir Sehnsüchte in uns, die Sehnsucht nach Orten oder Zuständen, die wir erreichen oder wahr werden lassen möchten: ein eigenes Haus im Grünen, ein selbst gestecktes berufliches Ziel, mehr Zeit für sich selbst, eine sozial gerechte Gesellschaft, Frieden, eine intakte Umwelt und Natur.
Wie oft laufen wir solchen Träumen nach, und wie oft verschwindet das Ziel, das wir eben noch in greifbarer Nähe glaubten, am Horizont in der Ferne. Sehnsuchtsorte, Träume und Hoffnungen treiben uns an, geben uns Kraft und Energie und lassen sich doch nicht immer erreichen.  Je größer ein Traum, desto schwerer lässt er sich verwirklichen.

Sehnsuchtsorte, Träume und Hoffnungen machen uns den Alltag leicht und beschwingt, sie sind aber immer wieder auch Quelle von Enttäuschung. Krankheit, berufliche oder familiäre Probleme, Ungerechtigkeiten und ein Mangel an Ressourcen machen uns oft einen Strich durch die Rechnung.

Ein Sehnsuchtsort bleibt ein Sehnsuchtsort – und wenn er einmal wahr wird, verliert er oft seinen Zauber. Ob ein Traum wahr wird, wissen wir nicht. Wann ein Traum wahr wird, wissen wir nicht. Wir können Schritte setzen, wir können das Unsere dazu tun, aber es gibt keine Garantie für ein Gelingen. Gerade die großen Träume bleiben allzu oft Wunschdenken: Unabhängigkeit, Gesundheit, Glück; Macht, Reichtum, Zufriedenheit; soziale Gerechtigkeit, Frieden, eine intakte Schöpfung.

Der größte Sehnsuchtsort, den wir Christen kennen, ist wohl das Reich Gottes. Den Armen, Trauernden, Machtlosen und Verfolgten verkündete Jesus das Reich Gottes als gerechte Wende zur Aufhebung ihrer Not. Die Gewaltlosen, die Gerechtigkeit Suchenden, die Barmherzigen und die Friedensstifter pries Jesus selig, ihnen versprach er das Himmelreich.

Was immer „Himmelreich“ oder „Reich Gottes“ bedeuten mag, es ist auf jeden Fall ein Ort des Trostes, ein Ort des Friedens und der Gerechtigkeit. Krankheit, Trauer, Ungerechtigkeit und Unfrieden sind darin aufgehoben, haben keine Macht mehr über die Menschen. Statt dessen ist das Reich Gottes von Heilung, Gerechtigkeit und Gnade geprägt. Armut und Gewalt sind überwunden, Kranke werden gesund, Einsame finden Gemeinschaft, Ausgegrenzte werden in die Mitte geholt. Wann, so frage ich, bricht dieses Reich Gottes endlich an?

Die ersten Christinnen und Christen erwarteten die Wiederkunft Christi und das Anbrechen des Reiches Gottes in unmittelbarer Zukunft. Mehr als 2000 Jahre später können wir diese Naherwartung nicht mehr teilen. Deutungen des „Reiches Gottes“ sind entstanden, die allesamt unbefriedigend sind: Die Vertröstung auf ein Jenseits nach dem Tode; das Gleichsetzen des „Himmelreiches“ mit einer sozial gerechten und friedlichen Gesellschaftsordnung. Beide Vorstellungen versuchen, das Reich Gottes dingfest zu machen: Durch zeitliche Abgrenzung in ein Später oder Danach; durch den Glauben an die Machbarkeit und Herstellbarkeit des christlichen Sehnsuchtsortes schlechthin.

Damit will ich nicht sagen, dass wir nicht darauf vertrauen dürften, auch nach dem Tod in Gottes Hand geborgen zu sein. Damit will ich nicht sagen, dass es sich nicht lohnen würde, für eine friedlichere und gerechtere Welt zu arbeiten. Im Gegenteil. Gerade unser Gleichnis gibt dem Bauern, dem Menschen der sät, eine wichtige Rolle. Der Bauer sät, doch die Erde bringt von selbst Frucht hervor. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht“, lautet ein Sprichwort. Das Reich Gottes lässt sich nicht herbeigießen, herbeipflegen, herbeizwingen – es kommt, wann und wo die Zeit dafür reif ist.

So ist das mit den Sehnsuchtsorten, mit den großen Träumen. Sie bleiben immer das Ziel am Horizont. Das Ziel, das immer wieder in weite Ferne rückt, wie nahe es uns auch zu sein scheint. Vielleicht sollten wir uns mit der Rolle des Säenden, der Säenden begnügen, ohne Anspruch auf Gelingen. Vielleicht sollten wir uns dabei an den Verheißungen und an der Praxis Jesu orientieren: Frieden säen, wo Zwietracht herrscht. Hungernde satt machen. Traurige trösten. Arme unterstützen. Gewalt vermeiden. Barmherzigkeit üben. Das Reich Gottes ereignet sich dann in uns und unter uns und zwischen uns und für uns alle. Und zugleich bleibt das Reich Gottes unverfügbar, lässt sich nicht festnageln, rinnt uns wie Sand zwischen den Fingern davon.

Das Reich Gottes – ein Ort der Sehnsucht. Als Zeugen für Gottes Reich haben wir Christinnen und Christen Jesus. Jesus, der sich den Menschen zuwendet und sie ernst nimmt. Jesus, der Menschen nahe kommt und sie begleitet. Jesus, der die Bedürfnisse seiner Brüder und Schwestern wahr und ernst nimmt. Verwurzelt in seinem jüdischen Glauben an den einen Gott schenkt uns Jesus auch seine jüdische Hoffnung auf das kommende Reich Gottes. Die Hoffnung auf das kommende Reich, das schon mitten unter uns Wirklichkeit ist.

Wenn Gottes Reich anbricht, so die Hoffnung, dann endet alle Gewaltherrschaft. Die Schöpfung wird verwandelt, alles Böse überwunden, alle Schuld vergeben. Alles Leid, aller Schmerz hat ein Ende, ja sogar der Tod wird überwunden. Diese Hoffnung des jüdischen und des christlichen Glaubens hat eine große Kraft. Sie verwandelt unsere egoistischen Wünsche und Sehnsüchte in eine Vision für alle Menschen. Sie macht uns Menschen zu Schwestern und Brüdern, die die Vision einer heilvollen Welt für alle teilen.

Gottes Wort, die Verheißungen und Zumutungen der Bibel, sind der Same, der sein Reich wachsen lässt. Lassen wir diese Samen in uns wachsen. Lassen wir diese Samen aus uns wirken.

Amen.

Published inPredigten

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