Predigt zu Markus 2, 1-12
Martin-Luther-Kirche Linz am 11.10.2015
Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
Liebe Gemeinde,
Krankheit und Sünde – zwei Themen, die uns auch heute beschäftigen – stehen im Zentrum der Geschichte von der Heilung des Gelähmten. Zwar glauben wir nicht, wie vielleicht manche damals, an einen Zusammenhang im Sinne von Ursache und Wirkung: Krankheit folge der Sünde quasi auf dem Fuß. Krankheit und Sünde werfen aber Fragen nach Heilung und Heilwerden von Menschen auf, die auch in unserer Zeit aktuell sind.
Gesundheit hat sich in unserer westlichen Gesellschaft beinahe zu einem Leitwert, vielleicht sogar zu einem kleinen Götzen gemausert. Wer nicht gesund lebt, wer keinen gesunden Lebensstil pflegt, bekommt es mit dem gesellschaftlichen Über-Ich, mit dem schlechten Gewissen der westlichen Zivilisation zu tun.
Andererseits stellen sich für Menschen mit schweren Erkrankungen existenzielle Fragen: Wie werde ich gesund? Werde ich die Krankheit überleben? Wie komme ich mit den körperlichen und seelischen Schmerzen zurecht? Bin ich vielleicht auch selber schuld? Diese Fragen wiegen schwer, und sie lasten oft schwer auf den Seelen der Betroffenen und der Angehörigen.
Die Frage der Heilung liegt heute zuallererst in der Hand der Ärzte, der Krankenschwestern und Pfleger, der Pharmazeuten und anderer Professionisten des Gesundheitswesens. Und die Frage nach dem Heil, nach dem Heil-Werden – wird sie heute überhaupt noch gestellt?
Jesus begibt sich in unserer Geschichte zunächst auf eine andere Ebene: Da bringen engagierte Helfer unter Aufbietung aller Kräfte und unter Überwindung zahlreicher Hindernisse einen körperlich beeinträchtigten Mann zu Jesus – wohl in der Erwartung, Jesus werde diesen Mann heilen. Jesus aber sagt angesichts dieses Kraftaktes des Vertrauens zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“
Welche Enttäuschung musste das wohl bei dem Gelähmten auslösen? Welche Enttäuschung bedeutete es für die Helfer, die so viel Kraft investiert haben? Glaubt Jesus etwa an einen Zusammenhang von Sünde und Krankheit? Sieht er etwa nicht die große Bedürftigkeit des gelähmten Mannes? Oder könnte man sagen, dass Jesus mehr sieht als nur die äußerliche Krankheit des Menschen?
Was hindert uns am Heilwerden? Was brauchen wir zum Heilsein? Ist es mit Gesundheit wirklich schon getan?
Zweifellos ist die moderne Medizin eine gute Sache. Und zweifellos bedürfen Kranke eines Arztes, wenn möglich des Besten. Aber diese Geschichte lehrt uns, dass wir den Menschen nicht auf ein Krank-Gesund-Schema reduzieren dürfen.
Der Mensch ist mehr als ein biologisches Wesen; er ist eben auch ein soziales, eines, das zu Schuld und Vergebung fähig ist, eines, das – theologisch gesprochen – sündhaft ist. Diese Sündhaftigkeit, diese Schuldfähigkeit erkennt Jesus in dem gelähmten Mann, von dem wir im übrigen nichts weiter erfahren, als sein körperliches Gebrechen. Diese Sündhaftigkeit, diese Schuldfähigkeit erkennt Jesus angesichts des Gelähmten und seiner Begleiter an und er zeigt damit, dass der Mensch mehr ist als seine Krankheit, mehr als sein Gebrechen.
Wir wissen nicht, welche Rolle Schuld und Vergebung für das Gesundwerden spielen. Wir ahnen aber, dass sie für unser Seelenheil wichtig sind. Wir wissen nicht, ob Verzeihen Heilung von Krankheiten bewirkt, wir glauben aber es bewirkt Heilung von seelischen Leiden. Wer verzeiht, setzt einen neuen Anfang; wer vergibt, setzt neue Energien frei; wer Verzeihung erfährt, wird ein Stück heiler, als er vorher war.
Krankheit und Sünde – verschiedene Beeinträchtigungen des Menschen, die unterschiedlicher Behandlung bedürfen. Krankheit und Sünde – nicht Ursache und Wirkung, aber ernsthafte Belastungen des Seelenheils und Hindernisse für ein Heil-Werden in Fülle.
Was hindert uns am Heilwerden? Was brauchen wir zum Heilsein? Ist es mit Gesundheit wirklich schon getan?
Jesus lehrt uns, dass es mehr braucht als körperliche Heilung, mehr als Gesundheit. Um heil zu werden braucht es vor allem auch Vertrauen; Vertrauen, wie es die Helfer, wie es die Begleiter des Gelähmten scheinbar im Übermaß besitzen. Sind sie nicht wunderbar, die einigen, die vier, die den gelähmten Mann gegen alle Widerstände und Hindernisse zu Jesus bringen – in dem Glauben, ja in dem Vertrauen, dass Jesus zur Heilung, zum Heil-Werden etwas Wesentliches beitragen kann?
Sie werden aktiv, um den Mann zu Jesus zu bringen. Sie setzen sich ein, damit der Mann gesund wird. Sie nehmen Strapazen und Gefahren in Kauf, um dem Gelähmten zu helfen.
Solches Engagement und solches Vertrauen muss belohnt werden: Jesus nimmt ihr Engagement ernst und wendet sich dem ganzen Menschen zu. Er sieht nicht nur den Kranken mit seinem Gebrechen, sondern nimmt den Gelähmten als Person ernst, als Person mit allen Aspekten seiner Seele und seiner Persönlichkeit.
Die Männer, die den Gelähmten zu Jesus bringen, sehen wohl in erster Linie den Gelähmten, den Mann mit seiner Krankheit, mit seinem Gebrechen. Seltsam stumm bleibt der Gelähmte, er sagt nicht, was er selber möchte, er lässt alles über sich ergehen, so als könnte er nicht sprechen, so als hätte er keinen eigenen Willen. Wurde er etwa gar nicht gefragt, was er will?
Auch Jesus fragt ihn nicht nach seinem Willen, nach seinem Wunsch. Er ignoriert das Offensichtliche, das Gebrechen, die Krankheit, und nimmt den Mann als ganzen Menschen in den Blick. Jesus reduziert den Gelähmten nicht auf seine Krankheit, sondern erweitert den Blick auf die ganze Person des Gelähmten:
Auch als kranker Mensch kann er an anderen schuldig werden. Auch als kranker Mensch ist er auf Verzeihen angewiesen. Auch als kranker Mensch ist er ein soziales Wesen und den Dynamiken der Sünde unterworfen.
Und andererseits: Auch andere werden an dem Gelähmten Mann schuldig. Auch als kranker Mensch ist er fähig zu verzeihen. Auch als soziales Wesen darf er immer wieder die Gnade Gottes und seiner Mitmenschen erleben und selber Gnade üben. Krankheit und Sünde – nicht Ursache und Wirkung, aber ernsthafte Belastungen des Seelenheils und Hindernisse für ein Heil-Werden in Fülle.
Jesus zeigt uns in dieser Geschichte, dass wir immer den ganzen Menschen sehen sollen, nicht nur die Krankheit, die Behinderung, das Gebrechen. Jesus mutet uns zu, in allen Lebenssituationen schuldfähig zu sein und zeigt uns, dass auch dann die Gnade Gottes, dass auch dann Verzeihen und Vergeben wirksam sind.
Amen.
Schreibe den ersten Kommentar