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Die Hoffnung des Hiob

Predigt zu Hiob 19, 19-27
am 21. März 2021
in der Lukaskirche Leonding

19 Die engsten Freunde zeigen nichts als Abscheu. Ich liebte sie, doch sie befehden mich. 20 Nur Haut und Knochen sind an mir zu sehen und mein Gesicht gleicht einem Totenkopf. 21 Ihr seid doch meine Freunde! Habt Erbarmen! Was mich zu Boden schlug, war Gottes Hand! 22 Warum verfolgt ihr mich so hart wie er? Habt ihr mich denn noch nicht genug gequält? 23 Ich wünschte, jemand schriebe alles auf, dass meine Worte festgehalten würden, 24 mit einem Meißel in den Fels gehauen, mit Blei geschwärzt, damit sie ewig bleiben! 25 Doch nein, ich weiß, dass Gott, mein Anwalt, lebt! Er spricht das letzte Wort hier auf der Erde. 26-27 Jetzt, wo die Haut in Fetzen an mir hängt und ich kein Fleisch mehr auf den Knochen habe, jetzt möchte ich ihn sehn mit meinen Augen, ihn selber will ich sehen, keinen Fremden! Mein Herz vergeht in mir vor lauter Sehnsucht!

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
„Gott ist tot“ – so empfinden es viele Zeitgenossen, nicht aber Hiob.

Väter, Mütter und Kinder, die auf der griechischen Insel Lesbos gestrandet sind, haben keine Hoffnung, keine Perspektive. Griechenland, Österreich, die Europäische Union haben sie vergessen, sind nicht bereit, sie in ihren Ländern aufzunehmen, ihnen eine menschenwürdige Zukunft zu ermöglichen.

Väter, Mütter und Kinder, die auf der griechischen Insel Lesbos gestrandet sind, leben in menschenunwürdigen Lagern, leben in Schmutz und Müll; Kinder und Säuglinge werden nachts von Ratten angeknabbert.

Väter, Mütter und Kinder – Menschen aus unterschiedlichen Ländern – sie alle denken vielleicht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?“

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
„Gott ist tot“ – so empfinden es viele Zeitgenossen, nicht aber Hiob.

Der junge Mann, der seine Frau durch Covid-19 verloren hat, ist verzweifelt. Wie ein Blitz ist die Krankheit in ihr Leben getreten; trotz ihres jungen Alters ist seine große Liebe nach kurzer aber schwerer Krankheit verstorben.

Der junge Mann, der seine Frau durch Covid-19 verloren hat, hadert mit dem Schicksal: Warum ich? Warum sie? Warum musste das passieren?

Allein mit zwei kleinen Kindern stellen sich viele Fragen: Wie schaffe ich das mit den Kindern? Wie schaffe ich das finanziell, mit nur einem Einkommen? Und vor allem: Wie schaffe ich das emotional? Verzweiflung, Trauer, Erschütterung.

Der Vater, die Kinder, die ganze Familie – sie alle denken vielleicht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?“

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
„Gott ist tot“ – so empfinden es viele Zeitgenossen, nicht aber Hiob.

Die Lehrerin, die Mitte 40 die Nachricht bekommt, dass sie an Lungenkrebs erkrankt ist, fällt in ein tiefes Loch. „Wie konnte das passieren, wo ich doch nie geraucht habe?“

Ohne Partner, ohne Eltern, fast ohne Freunde muss sie sich ihrer Krankheit stellen. Bestrahlungen, Chemotherapie, Übelkeit, Schwäche. Die Einsamkeit im Krankenhaus macht ihr zu schaffen. Vielleicht denkt auch sie sich immer wieder: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Auch Hiob hat viel verloren: seinen Besitz, seine Kinder, seine Gesundheit. Das Buch Hiob erzählt die Geschichte eines frommen, gottesfürchtigen Mannes, der alles verliert. Obwohl er alles richtig macht, straft Gott ihn, um ihn zu prüfen. Vom Satan herausgefordert wettet Gott auf Hiobs Rechtschaffenheit.

Auch Hiob hat viel verloren: seinen Besitz, seine Kinder, seine Gesundheit. Doch wie tief er auch sinkt, er lässt sich nicht dazu hinreißen Gott zu fluchen.

Hiob klagt den Freunden sein Leid. Hiob verflucht den Tag seiner Geburt und wünscht sich, nie geboren worden zu sein. Hiob wendet sich an Gott und klagt ihn direkt an, indem er spricht: „Was ist der Mensch, von einer Frau geboren? Sein Leben ist nur kurz, doch voller Unrast. Wie eine Blume blüht er und verwelkt, so wie ein Schatten ist er plötzlich fort.

Und trotzdem lässt du ihn nicht aus den Augen, du ziehst ihn vor Gericht, verurteilst ihn! (…) Im Voraus setzt du fest, wie alt er wird, auf Tag und Monat hast du es beschlossen. Du selbst bestimmst die Grenzen seines Lebens, er kann und darf sie niemals überschreiten. Darum blick weg von ihm, lass ihn in Ruhe und gönne ihm sein bisschen Lebensfreude!“

Hiob klagt Gott an, fordert von ihm Rechenschaft, doch – und das ist erstaunlich – er verflucht Gott nicht, wie es der Satan erwartet hat.

Im Gegenteil: Hiob hält an seiner Frömmigkeit, an seinem Gottesglauben fest und erwartet trotz allem Leid, trotz allem Schmerz, trotz aller Erniedrigung von Gott die Rettung: „Doch nein, ich weiß, dass Gott, mein Anwalt, lebt! Er spricht das letzte Wort hier auf der Erde. Jetzt, wo die Haut in Fetzen an mir hängt und ich kein Fleisch mehr auf den Knochen habe, jetzt möchte ich ihn sehn mit meinen Augen, ihn selber will ich sehen, keinen Fremden! Mein Herz vergeht in mir vor lauter Sehnsucht!“

Könnte ich das? Könnten Sie das? Könnten das die Väter, Mütter und Kinder auf Lesbos? Könnten das der junge Mann, die Lehrerin?

Provozierende Fragen. Herausfordernde Fragen. Eine Zumutung. Dennoch können wir darüber nachdenken, was wir von Hiob lernen können.

Da wäre erstens: wir dürfen klagen. Wir dürfen klagen, jammern, weinen, schreien, wenn uns ein Leid zustößt. Wir dürfen aufbegehren, das Unglück von uns weisen, uns weigern, es als unser Schicksal anzunehmen. All das ist nicht nur menschlich, sondern es ist auch unser gutes Recht mit dem Schicksal zu hadern.

Zum zweiten könnten wir von Hiob lernen, dass Leid nichts mit Schuld oder Fehlern zu tun hat. Es ist nicht unsere Schuld, wenn wir krank werden. Es sind nicht die schuld, die auf der Flucht sind, sondern jene, die Situationen schaffen, aus denen Menschen flüchten müssen. Leid widerfährt ganz unverschuldet, trifft Unschuldige und verschont manchmal sogar scheinbar oder wirklich schuldige Menschen.

Drittens – und das scheint mir am schwersten – können wir von Hiob lernen, das Leid anzunehmen. Niemand kann das von einem anderen Menschen verlangen. Niemand kann dazu verpflichtet werden. Es ist eine ganz individuelle Entscheidung, die jede, die jeder für sich selbst trifft.

Wer Leid annimmt, entscheidet sich aus freien Stücken, wenn auch aus der Not heraus. Wer Leid annimmt, akzeptiert das Schicksal, das ihm widerfährt, ohne es gutzuheißen.

Dabei möchte ich klar unterscheiden zwischen Leid, das vermeidbar ist, und Leid, das sich nicht lindern lässt. Wer der Lehrerin, wer dem jungen Mann, wer den Vätern, Müttern und Kindern auf Lesbos nicht hilft, vergeht sich gegen das Gebot der Nächstenliebe.

Krebs kann geheilt oder zumindest behandelt werden, körperliche Schmerzen gelindert. Trauer kann begleitet, wirtschaftliche Not aufgefangen werden. Menschen auf der Flucht können auf menschenwürdige Weise behandelt und als Brüder und Schwestern wahrgenommen werden.

Wo auch immer Gott scheinbar tot ist, möchte ich zum Anwalt des Lebendigen werden, möchte ich aufbegehren gegen Schmerz, Trauer, Unterdrückung, Leid. Gott hat uns ein Herz, einen Verstand und Hände gegeben, damit wir unseren Nächsten beistehen in Unglück, Schmerz und Leid.

Wo aber unser Vermögen, wo unsere Kraft nicht ausreicht im Kampf gegen das Leid, wo wir mit unserer Weisheit und unseren Möglichkeiten am Ende sind, dort, ja dort bleibt die Hoffnung des Hiob: „Doch nein, ich weiß, dass Gott, mein Anwalt, lebt! Er spricht das letzte Wort hier auf der Erde.“

Amen.

Published inPredigten

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